In Köln steht der Europäische Transsonische Windkanal. In ihm testen Flugzeugbauer und Universitäten die Flugzeugmodelle der Zukunft. Ein Besuch vor Ort.
Es ist ein schmuckloser Industriebau, wie es ihn in vielen europäischen Vorstädten gibt. Graue Metallfassaden, ein zweigeschossiger Bürotrakt, eine über 30 Meter hohe, riesige Halle mit drei Nebengebäuden und daneben ein weißer Tank. Doch hier, am Rande des Kölner Stadtteils Porz-Lind, werden keine Autoteile oder chemische Produkte hergestellt und auch keine Waren für den Versand vorbereitet. Hier wird an der Zukunft der Luftfahrt geforscht.
Die Anlage nennt sich Europäischer Transsonischer Windkanal, abgekürzt ETW. In ihr können Flugzeugmodelle unter wirklichkeitsgetreuen Bedingungen getestet werden. So zuverlässig wie sonst nirgendwo auf der Welt. Die Nasa betreibt in Langley in den USA zwar einen ähnlich gut ausgerüsteten Windkanal, die National Transonic Facility. Doch die ist älter. «Unsere Anlage ist moderner», erklärt ETW-Geschäftsführer Guido Dietz. China baut gerade erst eine Anlage auf.
Windkanäle an sich gibt es viele. Doch nur die National Transonic Facility der Nasa und der ETW (transsonisch bedeutet nahe der Schallgeschwindigkeit gelegen) können gleich drei Einflussgrößen separat steuern und so für eine realistische Umströmung in verschiedenen Flugszenarien sorgen: Temperatur, Druck und Geschwindigkeit. «Die Leistung von Flugzeugen und ihre Grenzen können bei uns bestimmt werden, lange bevor die Flugerprobung des ersten Prototyps startet», erklärt Dietz.
Schmuckloses Gebäude, aber für die Luftfahrt sehr wichtig: Der Europäische Transsonische Windkanal. Bild: ETW
Die Besonderheit des Kölner Windkanals lässt sich an einer Kennzahl erkennen, der sogenannten Reynoldszahl. Sie beschreibt die Kräfteverhältnisse in einer Strömung nahe der Flugzeugoberfläche. Die entscheidet darüber, ob die Strömung eher laminar (geordnet, glatt und widerstandsarm) oder turbulent ist - oder vielleicht sogar ablöst und Auftrieb verloren geht. Der ETW kann für den Flug von großen Passagierflugzeugen relevante Reynoldszahlen von bis zu 85 Millionen abbilden.
Die Resultate der Tests fasst das 35-köpfige Team des ETW in umfassenden, robusten Datensätzen zusammen, die der Kundschaft für weitere Analysen dienen. Kein Wunder, dass Branchengrößen wie Airbus, Boeing oder Dassault die Flugeigenschaften ihrer Entwürfe im Europäischen Transsonischen Windkanal analysieren lassen. Das ist allerdings nicht ganz billig. Die Nutzung der Anlage in Köln kostet je nach Energiebedarf pro Tag bis zu mehrere hunderttausend Euro. Und ein Test kann von einem Tag bis zu mehreren Wochen dauern.
Kernstück des ETW – er gehört je zu 45 Prozent Deutschland und Großbritannien und zu 10 Prozent den Niederlanden – ist eine Rundstrecke aus dicken Metallröhren in einem über 22 Meter hohen und 135 Meter langen Nebengebäude. In sie wird Stickstoff eingelassen, der durch einen zweistufigen Ventilator beschleunigt wird. In der Mitte des einen Längsrohres befindet sich eine zwei Meter hohe und 2,4 Meter breite Verdickung - die Messstrecke. In ihr sind die Flugzeugmodelle im Maßstab von etwa 1:25 befestigt.
Deren Flugeigenschaften werden beim Test akribisch analysiert. Sie sind mit Sensoren ausgerüstet, um Kräfte, Lastverteilungen und Bewegungen zu erfassen. Kameras beobachten alles und vermessen Modellverformungen oder auch Druck- und Temperaturverteilungen aus verschiedenen Perspektiven.
Die zwei Meter hohe und 2,4 Meter breite Verdickung ist die Messstrecke. Bild: aeroTELEGRAPH
Der Stickstoff hat gleich zwei Aufgaben. Er dient einerseits als Strömungsmedium und ermöglicht andererseits durch seine Einspritzung in tiefkalter, flüssiger Form die Temperaturkontrolle. Möglich ist die Simulation von Mach 0,15 (etwa um Starts und Landeanflüge darzustellen) bis zu Mach 1,35 (moderate Überschallflüge). Zugleich kann er für Temperaturen von minus 163 bis plus 40 Grad Celsius sorgen. Die Druckverhältnisse können von 1,15 bis 4,5 bar eingestellt werden.
Bevor ein Test startet, werden die Testmodelle in einer anderen Halle des ETW an einem großen Modellträger für den Einsatz vorbereitet, was mehrere Tage in Anspruch nehmen kann. Auf diesem unförmigen Ding von der Größe einer kleinen Garage ist oben ein eigener Serverraum mit Messgeräten und Computern zur Erfassung der Daten angebracht. Es wiegt 200 Tonnen und wird später mit einem riesigen Lastkran gehoben und direkt zum Windkanal transportiert und in die Messstrecke herabgelassen.
Dieses Vorgehen hat mehrere Vorteile. Zum einen können verschiedene Testreihen parallel nebeneinander aufgebaut werden. Das spart nachher Zeit. Zudem kann ETW so verschiedene Kunden voneinander trennen. «Vertraulichkeit ist für uns neben Datenintegrität und Anlagenverfügbarkeit von zentraler Bedeutung», erklärt Geschäftsführer Dietz.
Gesteuert werden die Tests von einem Kontrollraum aus, der an die Kommandozentrale eines Raumschiffs erinnert. In ihm gilt absolutes Handyverbot. Schließlich geht es um hochsensible Daten. Ist das Modell in der Messstrecke des Windkanals bereit, gibt der Testleiter zusammen mit einem Kundenvertreter das Zeichen zum Start.
Die Spannung steigt: Im Kontrollraum wird der Windkanal gestartet, die Messgrößen steigen. Bild: aeroTELEGRAPH
Dann wirft das Team den Windkanal an. Die Spannung im Kontrollraum steigt. Schrittweise werden Machzahl und Druck erhöht, um zu sehen, ob alles korrekt abläuft. So geht es, bis die Situation erreicht ist, in der man das Verhalten des Modells beobachten will.
Nicht immer sind es Großkunden, die den ETW nutzen. In der Anlage wird auch geforscht - zusammen mit Industriepartnern und Großforschungseinrichtungen. Kürzlich konnte das Institut für Aerodynamik und Gasdynamik der Universität Stuttgart zusammen mit anderen deutschen Hochschulen das Phänomen der Strömungsablösung an Verkehrsflugzeugen im Hochgeschwindigkeitsbereich untersuchen. Alleine mit rechnerischen Analysen kann es das nicht tun.
Es brauche dazu «Experimente mit Strömungsverhältnissen wie im Flug, aber wohl kontrollierbaren Laborbedingungen und aufwändigen Messtechniken», erklärt Thorsten Lutz, Leiter der DFG-Forschungsgruppe 2895. Gefördert wird die für die Luftfahrt so wichtige Forschung kooperativ von der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem DLR und auch Airbus.
«Zukünftige Flugzeuge müssen - unabhängig davon, welchen Energieträger sie nutzen - deutlich energiesparender werden, damit Lufttransport bezahlbar bleibt, klimaverträglich und Europa unabhängiger von Energieimporten wird. Unsere Forschungsinfrastruktur ist ein Schlüssel zu diesem Ziel», sagt Dietz. Den Zugang für Wissenschaftler möchte er in den kommenden Jahren ausbauen. Denn so können neue wissenschaftliche Erkenntnisse früh auf ihre Flugtauglichkeit getestet und bei Erfolg in Produktinnovationen überführt werden.
Ein Modell in der Messstrecke des Windkanals. Bild: ETW
Die Tests wurden in den vergangenen zweieinhalb Jahren markant teurer. «Die Kosten für Strom und Stickstoff haben sich zeitweise mehr als verdoppelt», sagt ETW-Chef Dietz. Energie verbraucht der Europäische Transsonische Windkanal in großen Mengen. «Bei Volllast benötigen wir in etwa so viel wie ein Fünftel der Haushalte der Stadt Köln», sagt Dietz, «allerdings ist das eine lohnende Investition und gering im Vergleich zu den enormen Treibstoffeinsparungen von Flugzeugen in aller Welt, die durch ETW-Tests ermöglicht wurden und werden».
Auch wenn die Tests in einem geschlossenen Raum stattfinden, muss das Team aufs Wetter achten. Der eiskalte Stickstoff wird aus dem Windkanal über einen Kamin wieder in die Atmosphäre entlassen. Die Umgebungsluft besteht zwar zu rund 80 Prozent aus Stickstoff, ist aber deutlich wärmer als im Kanal. Unter gewissen Wetterbedingungen, vor allem im Herbst, kann das zu Wolkenbildung führen.
Und die Wolken könnten den Betrieb des nahen Flughafens Köln/Bonn beeinträchtigen. Deshalb muss der austretende Stickstoff dann mit warmer Umgebungsluft vermischt und im ungünstigsten Fall auch noch geheizt werden. Dietz: «Zum Glück ist das aber nur selten der Fall».