Letzte Aktualisierung: um 11:29 Uhr

Konzernchef erhöht den Druck

Wieso Boeing bei der 737 Max 10 so hoch pokert

David Calhoun pokert mit einem möglichen Scheitern der 737 Max 10. Für Boeing und seinen Konzernchef steht viel auf dem Spiel.

Hinter den Kulissen argumentierten Boeings Lobbyisten schon im März so. Die politischen Strippenzieher des Flugzeugbauers informiertes Kongressmitglieder und -mitarbeitende über potenzielle Auswirkungen wie Arbeitsplatzverluste, sollte der Kongress der Boeing Max 10 keine Ausnahme genehmigen und die Variante womöglich nicht gebaut werden.

Vergangene Woche sagte Boeing-Chef David Calhoun persönlich im Gespräch mit dem Magazin Aviation Week, dass der Konzern Gefahr laufe, das Max-10-Programm einstellen zu müssen. Wenn man bedenke, was Boeing in den vergangenen Jahren durchgemacht habe, sei auch «eine Welt ohne -10 nicht bedrohlich», so Calhoun. Er sei willens, das Risiko einzugehen. «Wenn ich den Kampf verliere, verliere ich den Kampf eben.»

737 Max 10 braucht Verlängerung

Der Hintergrund: Ende des Jahres läuft eine gesetzliche Frist aus. Schafft es Boeing nicht, vorher die Zertifizierung für die 737 Max 10 zu erhalten, muss der Flugzeugbauer das Cockpit mit einem verbesserten Warnmeldungssystem ausstatten. Alle anderen Boeing-Modelle haben dies schon, nur die 737 Max hinkt mit einem uralten Standard hinterher.

Die Max 8 und Max 9 sind bereits zertifiziert und somit noch nicht betroffen. Derweil hofft Boeing, für die beiden noch nicht zugelassenen Varianten Max 7 und Max 10 noch in diesem Jahr die Zertifizierung zu erhalten. Gerade bei der Max 10 ist dies aber kaum zu schaffen. So drängt der Hersteller darauf, dass der Kongress die Frist verlängert.

Druck auf den Kongress wächst

Dass der Konzernchef nun scheinbar lapidar erwähnt, dass selbst ein Scheitern des Max-10-Programms ihn nicht schockieren würde, ist ein gewagtes Manöver. Es beruht auf dem, was Calhoun nicht sagt, was aber trotzdem jeder weiß: Ein Scheitern der Max 10 würde auch viele Folgen haben, die dem Kongress nicht gefallen, allen voran Arbeitsplatzverluste. Aber gelingt der politische Druck? «Es ist im Grunde ein Pokerspiel mit dem Kongress, und leider hat Boeing ein sehr schwaches Blatt», kommentiert das Analyse-Portal Air Insight.

Die Zeitung Seattle Times merkt an, dass der Druck auf den Kongress zuletzt nicht nur von Seiten Boeings gewachsen ist: «Die Familien der Opfer der beiden Max-Unfälle haben sich dafür eingesetzt, den Kongress davon zu überzeugen, die Verlängerung nicht zu gewähren.»

737 Max 10 fliegt nach Farnborough

Was geschieht also, wenn der Kongress Boeing keine Fristverlängerung gewährt? Verzichtet der Hersteller dann wirklich auf die Max 10? Es gibt einiges, was dagegen spricht.

Gerade hat Boeing angekündigt, genau diese Variante bei der anstehenden Farnborough Airshow bei London zu zeigen, der wichtigsten Messe seit Beginn der Pandemie. Macht Boeing das nur, um den politischen Druck in den USA zu erhöhen? In Farnborough sind vor allem die internationalen Kunden und Pressevertreter anwesend, vor denen der Hersteller schlecht dastehen würde, wenn der gezeigte Jet nur Monate später scheitert.

Herber Gesichtsverlust droht

Auch gegen einen Max-10-Verzicht spricht: Boeing hat Bestellungen für rund 640 der Flugzeuge von 17 Kunden. Auch wenn der Flugzeugbauer einige der Orders womöglich umwandeln könnte in solche für die kleinere Max 9, würde er doch Gefahr laufen, den Großteil ganz zu verlieren. Das wäre nicht nur ein großer wirtschaftlicher Rückschlag, sondern vor allem auch ein Prestigeschaden, den Boeing sich kaum leisten kann.

Mit den beiden 737-Max-Unglücken, dem langen Grounding des Modells, den Verzögerungen bei der 777X und dem langen Lieferstopp bei der 787 hat Boeing die Geduld vieler Kunden schon an einen kritischen Punkt gebracht. Jetzt noch die 737 Max 10 aufzugeben und einige der Kunden an Airbus zu verlieren, wäre ein herber Gesichtsverlust.

Viel Geld, längere Wartezeiten

Allerdings bringt auch Boeings andere Option zumindest kurz- und mittelfristig Probleme mit sich. Der Hersteller müsste das Cockpit der Max 10 umrüsten. Das würde ihn selber viel Geld kosten und die Fluggesellschaften müssten länger auf ihre bestellten Flugzeuge warten – laut Schätzungen von Air Insight etwa zwei zusätzliche Jahre.

Vor allem würde sich das Cockpit der Max 10 und – je nachdem, wie es bei dieser Variante läuft – womöglich auch das der Max 7 von denen der Max 8 und Max 9 sowie aller älteren 737 unterscheiden. Pilotinnen und Piloten könnten nicht mehr nahtlos zwischen den verschiedenen Version wechseln. Auch das würde den Betreibern nicht gefallen.

Stuhl des Konzernchefs wackelt

Beide Optionen sind höchst unattraktiv für Boeing. Eine mögliche Fristverlängerung durch den Kongress wäre dagegen der goldene Ausweg. Und so erklärt sich auch, warum Konzernchef Calhoun so auf diese Option pokert. Gewinnt er, ist es ein Erfolg für Boeing und ihn selbst. Verliert er, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin sich mit einer der beiden anderen Optionen herumschlagen muss.