Schock durch neuen Sowjet-Jet
Vor 55 Jahren hob die Tu-104 zum regulären Linienverkehr ab. Mit dem Flieger wischten die Sowjets einst dem Westen eins aus.
Sowjetische Briefmarke mit Tu-104-Motiv: Das Flugzeug galt als ultramodern.
Sowjetische Briefmarke mit Tu-104-Motiv: Das Flugzeug galt als ultramodern.
Chruschtschow wusste ganz genau, welch Wunderwerk seine Ingenieure da geschaffen hatten. Auf Basis des Bombers Tu-16 entwickelten die Experten des Designbüros Moskau Tupolew in den Fünfzigerjahren eine neue Passagiermaschine. Nicht irgendeine Passagiermaschine. Es sollte die erste sowjetische Passagiermaschine mit Düsenantrieb werden. Mit ihm wollte der Generalsekretär der KPdSU die wachsende Luftfahrt in der Sowjetunion voran bringen. Das Resultat der Bemühungen war die Tupolew Tu-104. Im Juni 1955 flog sie zum ersten Mal. Und auf den nächsten Probeflügen zeigte sich rasch – der Jet war ein großer Wurf.
Die Tu-104 war nicht die erste Passagiermaschine mit Düsenantrieb. Doch sie war größer, aerodynamisch moderner und schneller. Chruschtschow war sich bewusst, dass er das gut für seine Propaganda nutzen konnte. Anfang 1956 flog die Tu-104 zwar problemlos, war aber noch nicht fertig getestet. Dennoch fragte der Sowjetlenker den Chefentwickler, ob er mit der neuen Maschine bald auf Staatsbesuch gehen könne, wie sein Sohn Sergeij in einem Buch erzählt. «Vater konnte es nicht erwarten, die Briten zu überraschen. Schließlich genossen sie den Ruf, die erfinderischste Nation Europas zu sein. Und hier hatte das einst als rückständig geltende Russland die Gelegenheit, seine Errungenschaften zu zeigen.»
Viele Abstürze
Der Chefentwickler wartete jedoch und betonte das Risiko, weil die Tu-104 nicht durch und durch getestet sei. Der Staatschef dürfe deshalb nicht mit der neuen Wundermaschine fliegen, erinnerte sich Sergeij Chruschtschow in seinem Buch. Doch sein Vater ließ sich nicht beirren. Er selbst reiste zwar per Schiff nach England. Doch eine Sowjet-Delegation setzte mit der TU-104 in London ab. Im Westen staunte man. So etwas hatte man der Sowjetunion nie zugetraut. Zwar gab es zuvor drei andere Maschinen, die flogen: Die britische de Havilland Comet, die kanadische Avro Canada C102 Jetliner und die französische Sud Caravelle. Doch mit der Tu-104 konnten sie nicht mithalten. Am 15. September 1956 nahm der Sowjet-Flieger den Linienverkehr auf- vor genau 55 Jahren.
Besonders bitter war für die Briten auch später noch, dass ihre de Havilland Comet nach einer Reihe von Abstürzen 1958 endgültig aus dem Verkehr gezogen werden musste. Der Grund: Materialmängel. Die Tu-104 mit ihren ursprünglich 50 Sitzplätzen dagegen flog ohne Probleme. Seit 1956 war sie bei Aeroflot im Linieneinsatz. Auch die Sowjetarmee kaufte die Maschinen. Im Ausland übernahm die tschechoslowakische CSA mehrere Tu-104. Insgesamt rund 200 Stück baute man bis 1960. Dann stellte man die Produktion ein. Denn die Wundermaschine blieb zwar noch bis Ende der Siebzigerjahre im Einsatz – hatte aber unzählige Unfälle. Sie ging mit einer traurigen Bilanz in die Geschichtsbücher ein: Als der Sowjetjet mit dem schlechtesten Sicherheitsausweis.