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Martin Gauss, Air Baltic

«Das Problem bei Pratt and Whitney wird immer noch größer»

Im Interview spricht Air-Baltic-Chef Martin Gauss über 30 zusätzliche Airbus A220, Entschädigungsforderungen an Pratt & Whitney und das Wet-Lease-Geschäft.

Air Baltic wurde vom Ukraine-Krieg stark getroffen. Spüren Sie die Folgen noch?
Martin Gauss*: Wir haben ein Rekordquartal hinter uns. Das zeigt bereits, dass wir es weggesteckt haben. Ja, mit Russland und der Ukraine sind zwei wichtige Märkte weggebrochen. Aber wir haben das damit mehr als ausgeglichen, dass wir unser Wet-Lease-Geschäft ausgebaut haben. Wir hatten zwar schon zuvor geplant, dies zu machen. Darum haben wir auch nie Auslieferungen von weiteren Airbus A220 verschoben. Nun forcieren wir diesen Bereich aber etwas stärker.

Und zeigt sich das auch in den Resultaten?
Wir glauben inzwischen fest, dass Air Baltic 2023 das Jahresziel von 700 Millionen Euro Umsatz erreichen wird. Das wären 200 Millionen mehr als im früheren Rekordjahr 2019. Das zeigt, dass unser Geschäftsmodell funktioniert.

Aber es gibt noch Schatten: Zehn ihrer Airbus A220 stehen wegen Triebwerksproblemen am Boden und Sie müssen fremde Flugzeuge mieten.
Das ist so. Hier hat sich Pratt & Whitney deutlich verschätzt. Sie sagten uns Ende letzten Jahres, wir müssten uns darauf einstellen, dass im Hochsommer wegen der Probleme mit den Lieferketten acht Triebwerke fehlen würden. Das hätte also bedeutet, dass vier Flugzeuge nicht fliegen können. Darauf stellten wir uns ein. Nun sind es aber zwanzig Triebwerke und zehn Flugzeuge. Wir mussten uns deshalb ad hoc weitere Flieger im Wet-Lease beschaffen, weil wir unsere Gäste nicht enttäuschen und ihre Flüge annullieren wollten.

Air Baltic kann im Baltikum immer noch wachsen.

Sehen Sie in puncto Triebwerke bereits Licht am Horizont?
Nein. Das Problem bei Pratt & Whitney wird immer noch größer. Was mich dabei wirklich ärgert, ist, dass sie jetzt behaupten, das sei die Folge von höherer Gewalt. Das stimmt nicht. Sie haben die Lage falsch eingeschätzt und ihr Versprechen nicht eingehalten, das Problem bis 2023 zu lösen. Den Schaden haben aber wir, weil unsere Kundinnen und Kunden nicht mit unseren modernen Flugzeugen fliegen können. Das schadet unserem Image. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das PW1500G ist ein sehr gutes Triebwerk, aber die Art, wie Pratt & Whitney mit den Problemen umgeht, ist nicht gerade vorbildlich.

Sie wollen also von Pratt & Whitney dafür entschädigt werden?
Wir werden selbstverständlich mit Pratt & Whitney darüber sprechen. Es gibt aber immer mehrere Möglichkeiten, wie man Entschädigungen leisten kann. Man kann es über die Verrechnung bei künftigen Bestellungen lösen, über direkte Zahlungen oder über Gutschriften. Was wir aber nicht akzeptieren können, ist, dass sie es auf höhere Gewalt schieben.

Nichtsdestotrotz planen Sie, Ihre Option für 30 weitere Airbus A220 auszuüben. Für was werden Sie diese Flieger einsetzen?
Unser Plan ist es, maximal 30 Prozent der Flotte für Wet-Lease-Aufträge einzusetzen. Wir haben bisher 50 A220-300 bestellt, im Maximum wären es also 15 Jets. Üben wir die Option aus und bauen die Flotte auf 80 A220 aus, wären es am Ende 24 Flugzeuge im Wet-Lease-Geschäft. Den Rest werden wir für das Liniengeschäft brauchen. Air Baltic kann im Baltikum immer noch wachsen. Daneben wollen wir auch an anderen Orten wachsen, so wie wir es bereits mit der Basis in Tampere in Finnland tun.


Airbus A220 von Air Baltic. Bild: Air Baltic

Der Wet-Lease-Markt ist aber umkämpft. Es lohnt sich vielleicht aktuell, weil überall Flugzeuge fehlen, aber lohnt es sich wirklich auch langfristig?
Wet-Lease ist aktuell und vielleicht noch im kommenden Jahr ein sehr lukratives Geschäft. Aber danach? Wir haben allerdings eine ganz andere Ausgangslage als andere Anbieter. Sie nutzen ältere Flugzeuge. Sie bekommen deshalb auch keine Airbus A320 Neo oder Boeing 737 Max im Wet-Lease. Wir sind die Einzigen, die der Kundschaft das modernste, wirtschaftlichste Flugzeug für 150 Passagiere anbieten können. Zudem hat Air Baltic im Markt einen guten Ruf. Das zahlt sich aus.

Und wo will Air Baltic das Liniengeschäft noch ausbauen?
Wir sehen noch viele Möglichkeiten für neue Strecken ab dem Baltikum. Wir können mit dem Airbus A220 mit 150 Passagieren nonstop bis zu sieben Stunden weit fliegen. Das ermöglicht vieles. Daneben möchten wir in neuen Märkten starten, dabei konzentrieren wir uns auf den Norden Europas – nördlich von Hamburg. Konkret ist aber noch nichts.

Ich sehe uns ein fünftes Flugzeug in Tallinn hinzufügen.

Wie läuft es denn in Tallinn und Vilnius?
Riga ist unsere zentrale Basis, von wo aus wir Umsteigeflüge anbieten. Hier ist Air Baltic verankert und Marktführer. In den beiden anderen baltischen Staaten bieten wir Punkt-zu-Punkt-Verbindungen an. In Tallinn läuft es sehr gut. Wir haben nun vier Flugzeuge dort stationiert und sind ebenfalls Marktführer. Und ich sehe uns bereits ein fünftes hinzufügen. In Vilnius kommen wir dagegen nur auf einen Marktanteil von 11 Prozent. Der Flughafen scheint Wizz Air und Ryanair sehr zu mögen – obwohl das Land mit den beiden Billigairlines nicht eine Konnektivität zu wichtigen Metropolen bekommt, sondern eher zu Urlaubsdestinationen. Dennoch erreicht Vilnius nicht die Passagierzahlen, die Riga erreicht, obwohl Litauen deutlich mehr Einwohnerinnen und Einwohner hat als Lettland.

Nächstes Jahr geht Air Baltic an die Börse. Warum fanden Sie keinen Investor wie etwa eine größere Gruppe, das war doch immer das Ziel?
Wir waren einfach zu klein. Inzwischen haben wir bewiesen, dass unser Geschäftsmodell mit einer Einheitsflotte von Airbus A220 funktioniert. Und wir bauen die Flotte aus und werden größer. Ich sehe uns bis im Jahr 2030 auf 80 bis 100 Flugzeuge wachsen. Dann werden wir für einen strategischen Investor sicher interessant sein. Der nächste, für Anfang 2024 geplante Schritt ist jetzt aber die Börsennotierung.

Martin Gauss begann seine Luftfahrt-Karriere 1992 als Pilot einer Boeing 737 bei der British-Airways-Tochter Deutsche BA. Später stieg er dort in die Geschäftsführung auf. Nach der Integration von DBA in Air Berlin verließ er das Unternehmen nach 15 Jahren. Er stieg bei der Cirrus Group ein und wurde dort Geschäftsführer. Zwischen April 2009 und Mai 2011 war Gauss Chef der ungarischen Fluggesellschaft Malev. Seit 2011 Jahren ist er Chef von Air Baltic.