Luftfahrtforschung
Fliegende Einhörner und autonome Drohnen – was ist dran an der neuen Luftfahrt?
Was bedeutet der Begriff Advanced Air Mobility für die Luftfahrtbranche? Und was dürfen wir in den nächsten Jahren in diesem Segment erwarten?
In den 1950er- und 1960er-Jahren war die Luftfahrt noch richtig sexy: Airline-Marken wie Pan Am und bahnbrechende Flugzeug-Entwicklungen wie die Concorde sorgten dafür, dass man rückblickend von einem goldenen Zeitalter spricht, natürlich nicht, ohne dass dies tief getränkt in Nostalgie geschieht. Nachdem die Ölkrisen vielen der damaligen kühnen Zukunftsvisionen ein Grounding verpasst hatten, vermochte es die Luftfahrt nur noch selten, einen größeren gesellschaftlichen Hype zu entfachen.
Mit dem Lufttaxi den morgendlichen Stau umfliegen
Bis jetzt. Denn unter dem Begriff Advanced Air Mobility hat sich in den vergangenen Jahren ein völlig neuer Luftfahrt-Zweig herausgebildet, in dem sich Hunderte neue Akteure tummeln, vom Drohnen-Startup bis zu den Air Taxi Unicorns wie Joby Aviation und den deutschen Vertretern Lilium und Volocopter. Die Vision, morgens auf dem Weg zur Arbeit schon bald den Stau am Boden einfach und vor allem emissionsfrei überfliegen zu können, lässt viele Menschen wieder ins Schwärmen kommen, wenn es um die Zukunft unserer Industrie geht.
Rein technologisch unterscheidet sich das neue Segment von der „klassischen“ Luftfahrt vor allem durch den elektrischen Antrieb. Er kommt wie auch beim E-Auto mit deutlich weniger Teilen (insbesondere Verschleißteilen) als der Verbrennungsmotor aus und ist daher einfacher im Betrieb. Gleichzeitig bringt die neue Technologie eine Menge neue Herausforderungen mit sich. Dazu zählen thermische Fehlerfälle (was bereits Lilium einen Demonstrator kostete) und die durch das Gewicht der Batterien auf absehbare Zeit begrenzte Reichweite bzw. Flugdauer.
Welches Potenzial steckt also wirklich in dem neuen Luftfahrtzweig?
Wie bei vielen Dingen im Leben ist die Antwort komplexer, als dass es auf den ersten Blick erscheint. Das fängt bei der Eingrenzung des Marktes für „Advanced Air Mobility“ an. Natürlich zählen auch neuartige Lufttaxis, die sogenannten eVTOLs (electric vertical takeoff and landing), dazu. Doch sie bilden nur einen Teilbereich ab. Die Begriffsfindung ist dabei relativ komplex: Drohnen sind ein stark militärisch geprägter Begriff. Unmanned aerial services wirkt in Zeiten von Gender-Diskussionen nicht wirklich modern und schließt Passagiertransporte aus. Unpiloted ist nur insofern korrekt, als dass das Fluggerät nicht von Bord aus gesteuert wird. Doch am Boden zeichnet sich ja weiterhin jemand für den Betrieb verantwortlich. „Urban air mobility“ vernachlässigt hingegen die Anwenungsfelder in der Landwirtschaft.
Werden Drohnen zu Game Changern?
Marktseitig betrachtet könnten nicht die eVTOLs, sondern autonome „aerial services“ am schnellsten relevant werden. Hier gibt es schon heute Beispiele, wo durch den Einsatz von unbemannten Fluggeräten große Zeit- und Kostenersparnisse möglich werden. In Flächenländern wie Kanada gehören Wartungsverfahren von langen Pipelines oder Stromtrassen, die heute per Hubschrauber stattfinden, zu den Hauptanwendungsfeldern. Auch in dicht besiedelten Ländern Westeuropas jedoch existieren höchst spannende Anwendungsfelder, etwa im Bauwesen und Lagerlogistik, bei der Messung von maritimen Emissionen, oder der Wartung von Windkraft- und Industrieanlagen, etwa einem Schornstein. Bei letzterem Szenario kommen heute oft noch Höhenkletterer zum Einsatz, die neben zeitlichen auch unmittelbare finanzielle Kosten verursachen: Schließlich muss die Anlage während der Wartung abgeschaltet bzw. heruntergefahren werden. Drohnen werden hier schnell zum echten Game Changer, ohne dass man überhaupt mit dem öffentlichen Luftraum in Berührung kommt.
Denn der öffentliche Luftraum ist nicht nur im europäischen Kontext ein sensibles Thema: schließlich findet dort, insbesondere in urbanen Gebieten, bereits wesentlicher Luftverkehr statt: es tummeln sich Verkehrsflugzeuge, Privatflieger, Polizei, Bundeswehr und Rettungshubschrauber. Entsprechend gibt es ein ausgeklügeltes Luftverkehrssystem mit Fluglotsen, Kontrollzonen und ständigem Funkverkehr. Einen völlig neuen Verkehrsträger, im Zweifel noch dazu autonom gesteuert, integriert man da nicht so leicht. Wer hätte „Vorfahrt“? Wer weicht aus? Wie stimmen sich Menschen und Maschinen überhaupt ab, wenn sie sich in der Luft begegnen? Mit diesen Fragen hat man sich in den letzten Monaten im Hamburger Hafen sehr intensiv beschäftigt, im Rahmen des ersten Reallabors für Drohnen-Lufträume, genannt „U-Space“. Doch diesem ersten Schritt werden in den nächsten Jahren noch viele weitere folgen müssen.
Zuerst muss die Öffentlichkeit sensibilisiert werden
Ein weiteres Thema, das für die Akzeptanz von „Advanced Air Mobility“ – egal ob Drohnen oder Lufttaxis – ebenfalls zentral ist, ist die Öffentlichkeit selbst. Für den Erfolg dieses neuen Segments der Luftfahrt wird letztlich nicht die Technologie selbst entscheidend sein, sondern die gesellschaftliche Akzeptanz. Das spricht eher gegen die Durchsetzung der mittlerweile berühmten Paketdrohne, ganz unabhängig davon, dass der Paketwagen im städtischen Bereich logistisch deutlich einfacher und kostengünstiger ist. Realistische Szenarien werden wir eher in Bereichen sehen, die einen Nutzen für eine breite Bevölkerungsschicht haben. Ein Beispiel ist das Hamburger Projekt Medifly, in dem auch das ZAL involviert ist und in dessen Rahmen künftig Gewebeproben schnell und autonom per Drohne zwischen Klinik und Labor geflogen werden sollen. Solche Proben werden derzeit noch per Kurier oder Rettungswagen transportiert, was nicht nur umständlicher ist, sondern auch noch die Dauer von Operationen verlängert. Ein weiteres Beispiel ist die Kooperation von Volocopter und ADAC Luftrettung: Ein signifikanter Teil der Rettungshubschrauberflüge in Deutschland dient lediglich dazu, möglichst schnell einen Notarzt zum Einsatzort zu bringen. eVTOLs lassen sich kostengünstiger betreiben als Helikopter, sodass die medizinische Luftversorgung künftig engmaschiger gestaltet werden könnte.
Die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz wird letztlich auch entscheiden, ob es einen relevanten Markt für Lufttaxis geben wird. Dabei geht es nicht allein um den Flugpreis und die Frage, wie man diesen Markt auch für Zielgruppen außerhalb der oberen Zehntausend öffnet. Bereits heute gäbe es eine nicht unerhebliche Zahl an Menschen, die sich den täglichen Helikopterflug von der Villa in den Hamptons zum Arbeitsplatz im New Yorker Financial District leisten könnten. Tatsächlich gibt es in Manhattan aber weniger Helipads als in den 1980er Jahren. Der wesentliche Grund: die Lärmemissionen eines Hubschraubers, die gesellschaftlich immer weniger zumutbar sind. So könnten nicht nur die CO2-, sondern auch Lärmemissionen zur wirklichen Gretchenfrage für eVTOLs werden.
Wo landen?
In Zentraleuropa ist die Lage noch deutlich restriktiver. Hier existieren die meisten Hubschrauberlandeplätze an Kliniken und sind damit nicht für den zivilen Verkehr ausbaufähig. Wollte man also ein engmaschiges Netz von sogenannten Vertiports aufbauen, müsste man Orte finden, die gut erreichbar und gleichzeitig gut betreibbar sind – hierzulande quasi die Quadratur des Kreises. Prinzipiell kommen hierfür für eVTOLs sicher mehr Orte infrage als für heutige Helikopter. Doch neuartige emissionsfreie und leise Fluggeräte müssten neben einem Lande- einen Ladeplatz haben, erzeugen immer noch signifikanten Downwash bei Start und Landung und müssen mit Wind- und Wetterbedingungen umgehen. Und: Wo genau läge eigentlich der entscheidende Vorteil zum eSTOL-Starflügler, der eine ähnliche Zahl von Passagieren oder Fracht bewegen, aber auf bereits existierende Kleinflugplätze zurückgreifen könnte? Allein in den USA existieren Tausende davon, die schon heute nutzbar wären, ohne dass ein einziger Vertiport gebaut werden müsste. Startups wie Airflow, die im vergangenen Jahr das Sustainable Aero Lab durchlaufen haben, zeigen, dass es auch in diesem Segment viel Aktivität gibt.
Realistische Anwendungsfälle für eVTOLs gibt es dennoch: etwa als Shuttle auf ausgewählten verkehrsstarken sowie per Eisenbahn schlecht ausgebauten „Rennstrecken“ zwischen urbanen Zentren wie San Francisco und San Jose, sowie als Flughafen-Zubringer für große Hubs. Nahezu alle großen Player dieser „neuen Luftfahrt“ haben in den vergangenen Monaten entsprechende Konzepte oder Kooperationen in diesen Feldern bekanntgegeben. Es wäre wieder ein Stück weg vom völlig losgelösten „On Demand“ Netzwerk, aber manchmal beinhaltet der große Schritt nach vorne eben auch einen kleinen Schritt zurück.
Alles nach Plan? Oder nur Wunschdenken?
Allen Herausforderungen zum Trotz bietet uns dieses neue Segment letztlich gewaltige Chancen. Der Luftfahrt, weil eVTOLs und unbemannte Drohnenanwendungen die Türen aufstoßen für neue Player, neue und effizientere Antriebstechnologien, sowie neue Geschäftsmodelle und Supply Chains. Der Gesellschaft, weil sie unser Leben ein Stück angenehmer, effizienter und gleichzeitig sicherer machen werden.
Auch bei den „Einhörnern“ läuft nicht immer alles nach Plan, wie der jüngste Absturz eines Demonstrators von Joby Aviation während eines ferngesteuerten Testflugs ohne Besatzung zeigt. Die vollmundigen Präsentationen der Unternehmen mit Markteintrittsdaten schon in naher Zukunft sollte man daher mit viel Vorsicht genießen. Doch zumindest das ist in der Branche ja nichts neues. Warum sollte es der „neuen Luftfahrt“ daher anders gehen?
Roland Gerhards ist freier Kolumnist von aeroTELEGRAPH. Er ist Geschäftsführers des Zentrum für Angewandte Luftfahrtforschung (ZAL) in Hamburg. Die Meinung der freien Kolumnisten muss nicht mit der der Redaktion übereinstimmen.