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Flugzeugbauer in der Krise

Diese Probleme muss Boeings neue Führung lösen

Boeings Zivilflugzeugsparte hat eine neue Chefin, Konzernchef Calhoun verlässt den Konzern Ende 2024. Auf die neue Führung wartet ein Mix verwobener Probleme.

Der Cocktail war ziemlich ungenießbar für Boeing. Als wären zwei tödliche 737-Max-Abstürze und das folgenden Grounding des Modells nicht schlimm genug, kam im Frühjahr 2020 die Pandemie hinzu. Und das zu der Zeit, als der Flugzeugbauer mit der geplanten Übernahme der Zivilflugzeugsparte von Embraer ein riesiges Projekt vor der Brust hatte.

So blies Boeing den Zukauf in Brasilien ab. Damit entging dem Konzern die Möglichkeit, sich ein kleineres Modell und damit einen Konkurrenten für den Airbus A220 ins Portfolio zu holen. Auch erhielt er keinen Zugriff auf Embraers Ingenieurfähigkeiten, die auch für die Entwicklung eines neuen Modells hätten nützlich sein können. Das Analyseportal Leeham prognostizierte damals: «Die 2020er werden Boeings verlorene Dekade.»

Der Druck auf Boeing wächst

Heute ist die Pandemie vorbei und auch die Boeing 737 Max darf wieder fliegen. Zudem läuft Boeings Geschäft bei den Auftragseingängen wieder gut. Zwar hat der Flugzeugbauer im Januar und Februar 2024 insgesamt lediglich Bestellungen für 18 Flugzeuge erhalten. Doch alleine im letzten Quartal 2023 waren es 608. Selbst die einst totgesagte Boeing 777-8, die kleine Variante der 777X, ist im Orderbuch mittlerweile wieder zum Leben erwacht.

Doch genau an dieser Stelle hat Boeing auch ein wachsendes Problem: Zum eh übervollen Orderbuch kommen immer neue Bestellungen hinzu. Ende Februar 2024 hatte der Hersteller offene Aufträge für insgesamt 6177 Flugzeuge. Und zugleich stocken Auslieferungen sowie die Zertifizierungen neuer Modelle und Varianten. Der Druck wächst.

Sicherheitskultur im Zentrum

«Sie brauchen keine Verkäufe, sie sind eh bis 2030 komplett ausverkauft», sagte Ryanair-Chef Michael O’Leary kürzlich. Boeing müsse sich auf die Produktion und Auslieferungen konzentrieren, Gründe für Verzögerungen finden und Lieferketten in Ordnung bringen. Nur wenige Tage später trat der von O’Leary kritisierte Chef der kommerziellen Flugzeugsparte, Stan Deal, zurück. Konzernchef David Calhoun kündigte seinen Abschied für Ende 2024 an.

Deals Nachfolgerin Stephanie Pope und die noch nicht bekannte Person, die auf Calhoun folgen wird, stehen aber vor demselben zentralen Problem. Es lautet: Die Sicherheits- und Qualitätskultur bei Boeing ist nicht zufriedenstellend, besonders rund um die 737 Max. Das zeigte sich zuletzt, als eine 737 Max 9 von Alaska Airlines im Flug ein Paneel verlor und in der Folge Boeings Produktion erneut unter die Lupe genommen wurde.

Weitere Probleme als Folge

Zu den Folgen gehört, dass die amerikanische Luftfahrtbehörde FAA die Boeing-737-Max-Produktion derzeit deckelt und der Flugzeugbauer innerhalb von 90 Tagen einen Aktionsplan zur Erhöhung der Sicherheitsstandards vorlegen muss. Nickt die Behörde diesen Plan ab, muss Boeing ihn umsetzen. Derweil kann der Konzern sich weniger auf die Zertifizierungen der 737 Max 7, der 737 Max 10 sowie der 777X konzentrieren, bei denen die FAA nun eh besonders streng sein dürfte. Und daraus ergeben sich weitere Probleme.

Die Max 7, das kleinste Flugzeug von Boeing, braucht der Hersteller nach dem gescheiterten Embraer-Deal mehr denn je als Gegenspieler für den Airbus A220, die Max 10 als Konkurrent für den A321 Neo. Und die 777X ist das Flugzeug, mit dem Boeing die Nachfolge des Airbus A380 als größter Passagierflieger antreten will, der noch gebaut wird.

Hochgeklappte Flügelspitze einer Boeing 777X. Bild: aeroTELEGRAPH

Kunden werden ungeduldig

Großkundin Emirates fürchtet, die eh schon mehr als fünf Jahre verspätete 777X erstmals 2026 zu erhalten und nicht im Herbst 2025, wie zuletzt geplant. Delta erwartet ihre ersten Max 10 mit zwei Jahren Verspätung erst 2027, United schaut sich als Max-10-Alternative zusätzliche A321 Neo an. Und bei der Max 7 hat Boeing mit Southwest Airlines nur eine wirklich große Kundin, die sich auch schon auf weitere Verspätungen eingestellt hat.

All das dürfte auch der neuen Boeing-Führung überhaupt nicht schmecken. Allerdings kann sie sich bei allen Umbaumaßnahmen, die sie im Konzern anstößt, und auch bei allen Dinge, auf die sie womöglich verzichtet – wie der jetzige Chef Calhoun es schon mit dem 797-Projekt tat – auf eines zumindest aktuell noch verlassen: das Duopol im Flugzeugbau.

Noch hat Boeing genug Zeit

Embraer wird kaum auf die Idee kommen, Airbus und Boeing bei den großen Verkehrsflugzeugen Konkurrenz zu machen. Comac in China hat zwar einen mächtigen Inlandsmarkt, wird weltweit aber noch lange keine wirklich bedeutende Rolle spielen.

All das ist nicht für immer in Stein gemeißelt, gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung neuer Antriebstechnologien. Doch das Boeing-Management hat noch genug Zeit, um den Konzern in Ordnung zu bringen, ohne die Position als Airbus’ Gegenspieler zu verlieren.