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Nelly Diener

«Der Pilot gab den Passagieren Order, die Condor korrekt auszurichten»

Sie flog für Swissair und war die erste Flugbegleiterin Europas. In einem auf Tatsachen basierenden Roman wird die Geschichte von Nelly Diener mit den Anfängen der Luftfahrt verknüpft. Eine Leseprobe.

Nelly Diener war die erste Flugbegleiterin Europas. Unbekümmert wagte sie sich Anfang 1934 in einer Curtis Condor der gerade aus der Taufe gehobenen Swissair in die Luft. Die junge Frau erlebte die Anfänge der kommerziellen Luftfahrt hautnah – aber nur für kurze Zeit. Am 27. Juli starb sie nach nur 83 Flügen bei einem Absturz auf einem Flug von Zürich nach Berlin in der Nähe von Tuttlingen.

Auf der Basis von Tatsachen, Nachfahren von Zeitzeugen, damaligen Zeitungsartikeln und Tagebüchern des Swissair-Mitgründers Walter Mittelholzer verknüpfte Autorin Pascale Marder in ihrem Buch «Nelly Diener. Engel der Lüfte» die Geschichte der unkonventionellen Frau und ersten Stewardess Europas mit den Wirren in den Anfangszeiten der Passagierluftfahrt. Wir bringen hier exklusiv einen Ausschnitt aus dem Buch des Bilgerverlages.

«Zu diesem Flugunfall»

«Der Herr Direktor erwartet Sie.«
Fräulein Rottenmeier führt den Weg und öffnet die Tür zum Büro. Sie hat sich immer noch keine neuen Schuhe gekauft. Das mausgraue Wollkostüm könnte sie nun wenigstens durch ein mausgraues Sommerkostüm ersetzen.
»Direktor Zimmermann.«
»Fräulein Diener. Guten Tag. Bitte setzen Sie sich. Lassen Sie mich gleich zum Punkt kommen. Ich habe nicht viel Zeit. Aber gerne hätte ich noch Ihre Sicht der Dinge gehört.«
»Meine Sicht, Herr Direktor?«
»Na, zu diesem Flugunfall. Mittelholzer kostet mich ein Vermögen! Flattert mir dieser Brief auf den Tisch – wo hab ich ihn denn – von diesem Vorsteher des Eidgenössischen Luftamtes. Er schreibt: ›Nachdem Herr Direktor Mittelholzer leider derjenige Verkehrspilot ist, der in unseren Dossiers unter Zuwiderhandlungen oder Mangel an Flugdisziplin am häufigsten figuriert, ist es uns nicht möglich, die verhängte Buße von Fr. 200.– zu erlassen. Wir müssen mit Rücksicht auf das schlechte Beispiel, das den jüngeren Piloten gegeben wird, und im Interesse einer strikten Flugdisziplin der Linienpiloten auch in Aussicht nehmen, noch strengere Maßnahmen zu treffen, wenn bei der Direktion der Swissair in dieser Hinsicht eine leichtfertige Auffassung Platz greifen sollte.‹ Es muss an ein Weltwunder grenzen, dass er mit dieser Flugdisziplin überhaupt bis nach Persien gekommen ist. Es ist mir ein Rätsel.«

200 Franken Buße. Fast so viel wie mein Monatssalär! Und nur geringfügig weniger, als der Flug aller et retour nach Berlin kostet. Mit meinen 250 Franken Monatslohn käme ich ziemlich genau bis nach Breslau. Für Belgrad 396 Franken, Göteborg 426 Franken 70 Rappen, oder Sofia 494 Franken 70, müsste ich eifrig sparen. So viel, wie der Monatslohn einer Stewardess oder ein Ticket nach Berlin kostet, also so ein Spaß, wie Mittelholzer ihn sich zuweilen leistet.

«Ich habe die Spucktüten nicht nur als Souvenirs ausgehändigt»

»Also Kindchen, erzählen Sie mal, wie nahm das Unheil seinen Lauf?«
»Es war auf dem Rückflug von Stuttgart, circa 17 Uhr. Wir waren schon über Schweizer Boden. Das Wetter war schon den ganzen Tag schlecht gewesen, es hat mich erstaunt, dass wir trotzdem geflogen sind. Vermutlich lag es mitunter an der hochrangigen Gesandtschaft, welche an diesem Tag nach Berlin transportiert werden musste, Botschafter Escher und seine Entourage, Sie verstehen.«
»Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass Mittelholzer sie nicht enttäuschen wollte.«
»So flogen wir schon auf dem Hinweg unter prekären Wetterverhältnissen. Ich habe die Spucktüten nicht nur als Souvenirs ausgehändigt. Die Herren Gesandten waren doch stark von der Flugkrankheit betroffen. Der Regen prasselte fast horizontal gegen unsere Fenster, Direktor Mittelholzer hatte entsprechend Mühe, den Kurs zu halten. Sichtnavigation war aufgrund der dichten Wolken nicht möglich. Selbst die Sichtverhältnisse in der Kabine waren außerordentlich düster, weshalb sämtliche Leselampen in Betrieb waren.«
»Aber Sie sind heil in Berlin angekommen.«
»Ja. Die Zwischenlandungen in Stuttgart und Halle haben meinen Passagieren zwar einiges abverlangt, sind aber geglückt. In Berlin wurde dann aufgrund der Wetterprognose einigermaßen ausführlich beratschlagt, ob man den Rückflug wagen kann. Weil aber am nächsten Tag mit Maria Adelgunde von Hohenzollern eine Adelige auf der Passagierliste stand, wollte Direktor Mittelholzer die Curtiss Condor unbedingt am gleichen Abend wieder in Zürich wissen. Also sind wir zurückgeflogen.«
»Unter denselben prekären Wetterverhältnissen, wie ich annehme.«
»Fast noch schlimmer, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, Direktor Zimmermann. Selbst mir wurde übel.«
»Das will etwas heißen.«

«Wie Sie sicherlich schon festgestellt haben, befinden wir uns im Moment im Gleitflug»

»Wir hatten den Rhein bereits überflogen, und so war ich erleichtert, dass die Reise nicht mehr lange dauern konnte. Obwohl erst 19 Uhr, war es draußen schon zappenduster, wie an einem verregneten Herbstabend. Plötzlich höre ich, wie die Motoren stocken. Ein Passagier zeigt aufgeregt aus dem Fenster und deutet auf den Propeller. Er steht still. Ich eile auf die andere Seite des Gangs und muss mit Erschrecken feststellen: Auch dieser Propeller ist kurz davor, den Geist aufzugeben. Ich eile also ins Cockpit, wo man den Umstand natürlich auch schon bemerkt hat. Direktor Mittelholzer klopft ungläubig auf eines der Messgeräte am Armaturenbrett. Dann zischt er mir zu: ›Bereit machen zur Notlandung.‹ Was in diesem Fall zu tun ist, haben wir aber nie besprochen.«
»Und was haben Sie getan?«
»Ich ging wieder zurück in den Passagierraum. Es war mucksmäuschenstill. Die Propeller machten ja keinen Lärm mehr. Also hatte ich die volle Aufmerksamkeit unserer Passagiere. So ruhig wie möglich sagte ich: ›Wie Sie sicherlich schon festgestellt haben, befinden wir uns im Moment im Gleitflug. Direktor Mittelholzer bereitet alles für eine geordnete Zwischenlandung vor. Bitte halten Sie sich und Ihre mitgebrachten Gegenstände gut fest. Die Landung könnte etwas holprig werden.‹ Und so war es dann auch.«
»Sie sind auf einem Feld gelandet.«
»Jawohl, Herr Direktor. Das Fahrwerk grub sich abrupt in den regennassen Boden, sodass es nicht zu einem langen Ausrollen kam. Direktor Mittelholzer meinte, wir hätten großes Glück gehabt, dass das Fahrgestell nicht gebrochen sei. Zum Glück hat ein Bauer unsere Landung beobachtet und eilte uns mit seinem Traktor zu Hilfe. Direktor Mittelholzer hieß alle Passagiere aussteigen, so, dass wir knöcheltief in den vom Regen aufgeweichten Ackerfurchen standen. Wir wateten zum nahen Feldweg, auf den der Bauer auch unsere Curtiss Condor schleppte. Der etwas breitere Feldweg würde sich gut zum Start eignen, allein, wir hatten ja keinen Treibstoff mehr.«

«Ich fürchte, es war nicht zu übersehen»

»Keinen Treibstoff?«
»Wie sich herausstellte, hatte der Flug gegen das Wetter sehr viel mehr Treibstoff verbraucht als üblich. Direktor Mittelholzer erklärte später den Passagieren, dass die Treibstoffladung normalerweise mehr als ausreichend sei, weshalb er – nun ja – übersehen? hatte, die Treibstoffmenge zu überprüfen.«
»Mittelholzer hatte zu wenig Most im Tank? Und hat das den Passagieren auch noch so gesagt?«
»Ich fürchte, es war nicht zu übersehen. Der Bordfunker musste ja vom Landwirt in den nächsten größeren Ort gefahren werden und kam mit zwei riesigen Kanistern zurück. Das Flugzeug wurde betankt, Direktor Mittelholzer gab den Passagieren Order, die Condor auf dem Feldweg korrekt auszurichten, um einen optimalen Start zu ermöglichen. Die Passagiere waren folgsam wie die Lämmer.«
»Und keiner hat sich beklagt?«
»Ich denke, es waren alle froh, als wir heil wieder in Dübendorf gelandet waren. Nur kurz nach dem Start, als wir wieder die reguläre Flughöhe von 2500 Metern erreicht hatten und Direktor Mittelholzer in die Passagierkabine kam, sagte ein Passagier, ich meine, es war Nationalrat Meiringer, es wäre ihm fast lieber, Direktor Mittelholzer würde nun wieder im Cockpit Platz nehmen, um sich der Navigation zu widmen.«
»Mittelholzer verließ das Cockpit?«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, wollte er die Situation … erklären? So kamen wir, vor Dreck strotzend und völlig durchnässt, mit zweieinhalb Stunden Verspätung in Dübendorf an. Die Passagiere gingen ihres Wegs, ich putzte noch weitere zwei Stunden das schmutzige Flugzeuginnere, damit wir uns am nächsten Tag vor Gräfin von Hohenzollern nicht genieren mussten.«
»Mittelholzer! Sapperlot, so ein Hallodri! Diese Buße bezahlt er mir persönlich.«

Das Kapitel stammt aus dem Buch «Nelly Diener. Engel der Lüfte», erschienen im Bilgerverlag. Sie können es hier bestellen.