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Concorde-Kapitän Jean-Louis Chatelain

«Concorde-Projekt basierte nie auf einem Businessplan»

Im Juli 2000 stürzte Concorde-Flug AF4590 in Paris ab. Der frühere Air France-Concorde-Pilot und Unfalluntersucher Jean-Louis Chatelain über seine Erfahrungen mit dem Überschalljet.

Für Jean-Louis Chatelain war der Absturz der Concorde am 25. Juli 2000 ein dreifacher Schock, wie er sagt. Chatelain, Jahrgang 1946, durfte als Flugkapitän bei Air France zwischen 2001 und 2003 die Concorde vom linken Sitz aus fliegen. «Ich erhielt im Alter von 57 Jahren meine Typenberechtigung für die Concorde, und zwar genau am Tag vor dem Unfall im Juli 2000», erklärt Chatelain. Der Absturz ging ihm auch deswegen besonders nahe, weil er mit dem Unglückspiloten und anderen Crew-Mitgliedern eng befreundet war.

Insgesamt 400 Flugstunden legte er nach Wiederaufnahme des Flugbetriebs im November 2001 bis zu ihrem Ende bei Air France im Juni 2003 in der Concorde zurück. Damals brachte er in seinem letzten Concorde-Flug ein Exemplar von Paris nach Karlsruhe/Baden. Von dort wurde sie ins Auto & Technik Museum Sinsheim gebracht, wo sie seitdem besichtigt werden kann. Luftfahrtexperte Andreas Spaeth hat für sein Buch «Überschall-Passagierjets. Vergangenheit und Zukunft» mit Chatelain geredet, und aeroTELEGRAPH einen Auszug des Gesprächs zur Verfügung  gestellt.

Was waren die größten Errungenschaften der Concorde?
Im Rückblick sind die Errungenschaften der Concorde größer als man denken würde. Am Anfang war das eine totale Herausforderung, aber die Konstrukteure erreichten ihre technologischen Ziele, und das Flugzeug funktionierte dann 25 Jahre zuverlässig. Es war das erste grenzüberschreitende Flugzeugprojekt überhaupt, ein internationales Abenteuer der Briten und Franzosen, und wir haben daraus eine Menge gelernt. Das ermöglichte später den Start von Airbus und weiterreichender internationaler Projekte. Für alle Beteiligten bot die Erfahrung aus dem Concorde-Projekt einen echten Vorteil. Airbus wäre heute nicht Airbus ohne die Concorde. Das war so ein fortschrittliches Flugzeug, Airbus musste anschließend für seine Flugzeuge daraus nur extrapolieren.

Wirtschaftlich war die Concorde ein Milliardengrab. Gab es jemals eine realistische Marktchance für Überschallflüge?
Das Concorde-Projekt basierte nie auf einem Business-Plan. Die Entscheidung dafür fiel in Frankreich auf Regierungsebene zu Zeiten von Präsident Charles de Gaulle, die Concorde war eines der staatlichen Fortschrittsprojekte, genau wie die Atom-U-Bootflotte oder das Weltraumzentrum in Französisch-Guayana. Geschwindigkeit bedeutet Kosten, vor allem für den Treibstoff pro Trip. Wenn man die Concorde unter Marketing-Gesichtspunkten betrachtet, war sie zum Scheitern verurteilt. Es war beabsichtigt, mit ihr auch über Land Überschall zu fliegen, was dann wegen des Überschallknalls nicht erlaubt wurde. Am Ende trafen die Amerikaner 1971 die logische Entscheidung aus ihrem Projekt auszusteigen, während Briten und Franzosen an ihrem Großprojekt festhielten. Aber wenn man sich die Zahlen anschaut, war der Markt einfach nicht da. Und er war nie da. Während meiner Zeit hatten wir immer nur etwa 30 bis 40 Passagiere auf jedem Concorde-Flug.

Können Sie die Abfolge der Ereignisse zusammenfassen, die zum Unfall führten?
Ich habe als Mitglied der achtköpfigen Untersuchungskommission, die vom französischen Verkehrsminister beauftragt war, ein Jahr mit diesem Thema verbracht. Das Szenario bestand, wie bei den meisten Unfällen, aus einer Kette von Ereignissen. Das auslösende Ereignis stand dabei in keinem Verhältnis zu den Konsequenzen, die daraus entstanden. Es war ein 200-Gramm schweres Metallstück, das bei hoher Geschwindigkeit tief in den Reifen einschnitt. Das löste einen Reifenplatzer aus, ein riesiges Stück der Lauffläche traf die Tragfläche, und dann gab es diese Schockwelle die sich im Tank entwickelte und ihn von innen nach außen aufriss. So entstand ein massives Loch, durch das Treibstoff auslief und ein großes Feuer auslöste, das zum Ausfall zweier Triebwerke führte. Kein Flugzeug ist dafür zertifiziert, das zu überstehen.

Die Concorde war ein älteres Flugzeug.

Gibt es an der Kette der Ereignisse trotz widersprüchlicher Aussagen damals keine Zweifel?
Wir waren tatsächlich in der Lage, den Ablauf der Ereignisse objektiv zu rekonstruieren. Es gab Zeugenaussagen, die belegen sollten, dass es ein Feuer vor dem Bersten der Tanks gegeben habe. Das war zwar ehrlich gemeint, aber trotzdem falsch, wir alle wissen wie sich menschliche Zeugen irren können. Aber die Tatsache, dass das ganze überhaupt auf diese Weise hat passieren können, war ein unglaublicher Zufall.

Also hätte der Vorfall auch glimpflich ausgehen können?
Während der Untersuchung haben sie versucht, das Aufschneiden des Reifens nachzustellen. Sie fanden heraus, dass je nach dem Winkel, in dem der Reifen auf das Metallstück traf, es den Reifen aufschnitt oder auch nicht. Mit dem Ausfall der beiden Triebwerke war es jedenfalls unmöglich, das Flugzeug zu retten, wegen der Charakteristik der Deltaflügel der Concorde. Deren Widerstand bei niedriger Geschwindigkeit ist so erheblich, dass sie extra Schub brauchen, um die kritische Geschwindigkeit zu erreichen. Wenn sie diesen Extraschub, der beim Start von den mit Nachbrennern auf Hochtouren laufenden Motoren kommen muss, nicht haben, sind sie verloren – weil sie dann an Geschwindigkeit verlieren. Das war die Situation, in der sie damals waren.

Warum wollten die Franzosen die Concorde um jeden Preis stoppen, während die Briten unbedingt weiter fliegen wollten?
Für die Airline, die von dem Absturz betroffen war, Air France, war es viel schwieriger, sich davon zu erholen. Das Image der Gesellschaft hatte erheblichen Schaden erlitten und es hätte sehr viel Zeit gekostet, den Ruf der Concorde als sicheres Flugzeug wiederherzustellen. Aber sicherlich war es die französische Entscheidung, sich nicht mehr um eine Verlängerung der Zulassung zu kümmern, die die Briten dazu verdammte, zu folgen. Sicherlich war die Concorde ein alterndes Flugzeug, was bedeutete, dass die Kosten stiegen, um die sich häufenden und wiederholenden Systemausfälle abzumildern. Das bedeutete eben einen höheren Wartungsaufwand, das macht einfach viel mehr Arbeit. In dieser Hinsicht war die Concorde anderen älteren Flugzeugen nicht unähnlich.

Wir haben  das Pionier-Zeitalter verlassen.

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie heute im Museum das Flugzeug sehen, das Sie geflogen haben?
Das ist sehr emotional natürlich. Das ist fast surreal, unter diesem riesigen Flugzeug langzulaufen und zu wissen, dass das mal geflogen ist. Auch weil es Teil der Luftfahrtgeschichte ist und nie durch etwas ersetzt wurde. Das sieht irgendwie unwirklich aus, und ich denke für mich: Hat das wirklich existiert? Habe ich das wirklich geflogen? Manchmal erscheint die Concorde in meinen Träumen, auch deshalb hat das hier etwas Surreales für mich.

Glauben Sie, dass es gut wäre, in Zukunft wieder ein Überschall-Passagierflugzeug zu haben?
Das glaube ich nicht. Wir haben so viele andere Möglichkeiten, um an fortschrittlicher Technologie zu arbeiten. Ich denke wir haben in der Luftfahrt eine Wegscheide passiert, wir haben das Pionier-Zeitalter verlassen, in dem wir jedes Jahr Fortschritte bei Sicherheit oder Geschwindigkeit vermelden konnten. Luftfahrt ist zu einer Industrie geworden, die den meisten Leuten nützt. Ich glaube es gibt keinen Grund dafür, Leute wieder mit Mach 2 zu befördern. Was würde es heute rechtfertigen, den Atlantik in drei statt acht Stunden zu überqueren, um den Preis großer Auswirkungen auf den Planeten? Gleichzeitig haben wir doch alle Arten von Technologien, um selbst von den abgelegensten Plätzen aus zu kommunizieren.

Also fehlt Ihnen eine überzeugende Motivation für eine neue Überschall-Ära?
Die großen menschlichen Errungenschaften basieren auf einer gerechten Sache. Und ich glaube, es gibt keine gerechte Sache mehr als Begründung für Überschallflüge. Früher waren wir in einer Phase, wo wir jedes Jahr mehr Fortschritt erreicht haben, und Geschwindigkeit wurde damals als Fortschritt gesehen. Als der Concorde-Linienflugbetrieb begann war ich als junger Boeing-707-Pilot in Lima, Peru stationiert, und ich konnte drei Monate nicht mit meiner Familie kommunizieren. Verständlicherweise wurde damals nicht nur Geschwindigkeit an sich als ein Fortschritt gesehen, sondern die Möglichkeit, innerhalb sehr kurzer Zeit einen Flug von einer Seite des Atlantiks auf die andere nehmen zu können, das war damals ein akzeptabler Grund dafür, Überschall-Reisen zu ermöglichen. Aber heutzutage fehlt uns einfach eine Begründung, um das zu rechtfertigen.

Andreas Spaeth ist Autor des neuen Buchs «Überschall-Passagierjets. Vergangenheit und Zukunft», Motorbuch-Verlag, 224 Seiten, 29,90 Euro. Hier bestellen.