Anschlag von Lockerbie
Wie ein 47-Jähriger Unglücksflug PA103 von Pan Am verpasste
Am 21. Dezember 1988 zerfetze eine Bombe über Lockerbie eine Boeing 747 von Pan Am, 270 Menschen starben. Jaswant Basuta verpasste den Flug in letzter Sekunde. Wie es dazu kam.
Das zertrümmerte Cockpit der Boeing 747 in Lockerbie: 259 Insassen starben und elf Menschen am Boden.
Das zertrümmerte Cockpit der Boeing 747 in Lockerbie: 259 Insassen starben und elf Menschen am Boden.
Es gab einige Passagiere, die ursprünglich mit Flug PA103 von Pan Am am 21. Dezember 1988 von London nach New York fliegen wollten, die Reise aber kurzfristig umbuchten, stornierten oder nicht antraten. Sie alle verdanken diesem Umstand ihr Leben. Aber keiner von ihnen ist dem Tod wohl in letzter Sekunde derart ‒ und das absolut unfreiwillig ‒ von der Schippe gesprungen wie der US-Amerikaner Jaswant Basuta.
Der damals 47-jährige Automechaniker war aus den USA über Großbritannien nach Belfast in Nordirland gereist, um an einer großen Hochzeit als Gast teilzunehmen. Am 21. Dezember 1988 wollte er dann von London aus mit PA103 zurück in die USA fliegen. Verwandte, die im Londoner Stadtteil Southall lebten, kamen extra zum Flughafen, um Basuta noch einmal zu sehen und ihn zu verabschieden.
Noch schnell in eine Bar
Da noch genügend Zeit bis zum Boarding war, überredeten die Männer Basuta, mit ihnen in eine Bar im oberen Bereich des Terminals zu gehen. Obwohl er als Sikh eigentlich keinen Alkohol trinken durfte, machte er an diesem Tag eine Ausnahme. «Wenn sein Glas leer ist, schenk ihm ein neues ein», wies Basutas Schwager den Barkeeper an und der Mann tat wie ihm geheißen. Man kann sagen, dass der Alkohol in Strömen floss, während die Zeit in geselliger Runde nur so verflog.
Plötzlich sah Basuta, dass Flug PA103 mit «Gate closed» auf der Anzeigetafel aufschien. Es dürfte gegen 17:15 und 17:30 Uhr gewesen sein. Der 47-Jährige erschrak und verabschiedete sich hastig von seinen Familienangehörigen. Dann griff er nach seinem Handgepäck und rannte los in Richtung des Gates. Doch vorher musste er noch die Passkontrolle sowie den Sicherheitscheck passieren ‒ das kostete wertvolle Zeit.
Er sah nur noch wie der Jumbo zurückgestoßen wurde
Es war ein aussichtsloses Unterfangen, doch Basuta rannte wie ein Sprinter, denn seine Frau würde ihn am Flughafen JFK erwarten und außerdem hätte er am nächsten Tag einen neuen Job antreten sollen. Er musste den Flug einfach erwischen, alles andere wäre eine Katastrophe für ihn. Doch als er endlich völlig abgehetzt am Gate des Fluges PA103 ankam, war es bereits leer. Alle 243 Passagiere befanden sich an Bord des Jumbos und das Personal am Gate packte gerade seine Sachen zusammen.
Der Beschwipste, er hätte der 244. Fluggast sein sollen, flehte, bettelte und argumentierte, doch der Flug war bereits endgültig abgefertigt. Dann wurde er lauter und unfreundlich. Auch die Pan-Am-Angestellten erhoben nun ihre Stimmen und machten Basuta klar, dass es keine Möglichkeit mehr für ihn gab, in das Flugzeug zu gelangen. Durch die Fenster sah der Amerikaner ratlos zu, wie die Clipper Maid of the Seas in der Dunkelheit kurz nach 18 Uhr vom Schlepper zurückgestoßen wurde. Er sah die hell erleuchteten Fenster der Kabine und das rote Blinklicht (Beacon), das signalisierte, dass nun nacheinander die Triebwerke angelassen wurde.
Keine freien Plätze mehr
Als sich die Boeing 747 von Pan Am in Bewegung setzte und über den Taxiway zur Piste 27R rollte, konnte Basuta nur hinterher blicken. Innerlich war ihm in diesem Moment wohl zum Heulen zumute. Völlig verzweifelt zog Basuta von dannen und wusste nicht, was er tun sollte. Er traute sich nicht einmal, seine Frau in den USA anzurufen. Die würde ihm nämlich wegen des verpassten Fluges die Hölle heiß machen, denn schließlich stand deshalb der neue Job auf dem Spiel.
«Ich ging zu einem Pan-Am-Schalter, sagte der Dame dort, dass ich den Flug wegen meiner eigenen Dummheit verpasst hatte und bat sie, mich auf den nächstmöglichen Flug umzubuchen, da meine Familie in New York auf mich warten würde. Aber sie konnte keinen freien Platz finden, denn es war kurz vor Weihnachten und alle Flüge waren eben ausgebucht. Dann ging ich weg.»
Polizei informiert – und verhört ihn
Erschöpft setzte sich der Mann auf eine der Sitzbänke im Wartebereich. Doch es dauerte nicht lange als er plötzlich zwei Polizisten sah, die zielstrebig auf ihn zumarschierten. «Sind Sie der Passagier, der den Pan-Am-Flug verpasst hat?», fragten die Beamten streng. Dann harkten sie nach: «Wissen Sie, was mit dem Flug passiert ist?» Als Basuta sagte, dass er keine Ahnung habe, und verärgert erwiderte, dass er den Flug verpasst habe, antwortete einer der Polizisten: «Das Flugzeug ist bei Lockerbie in Schottland abgestürzt.»
Doch davon hörte der 47-Jährige in diesem Augenblick zum ersten Mal, denn wie hätte er ‒ Internet, Handys und Smartphones gab es damals noch nicht ‒ überhaupt wissen sollen, dass Pan Am 103 verunglückt war? Sofort wurde er von den Ordnungshütern zielstrebig zur Polizeistation des Flughafens gebracht, wo er nicht gerade höflich behandelt wurde, angesichts des Umstandes, dass ihn die Polizei verdächtigte, für den Absturz, der sich später als der schlimmste Terroranschlag Großbritanniens herausstellen sollte, verantwortlich zu sein.
Gepäck war nicht ausgeladen worden
Sie sperrten Basuta sogar in eine Zelle. Wie es überhaupt dazu kam? Routinemäßig überprüften die Behörden nach dem Crash, ob es sogenannte No shows gegeben hatte, also Passagiere, die nach dem Einchecken ihren Flug nicht angetreten hatten ‒ und waren dabei rasch auf einen gewissen Basuta, J., Mr. im System gestoßen. Was erschwerend hinzukam war, dass Pan Am Basutas Gepäck nicht ausgeladen hatte, um den Abflug nicht zu verzögern. Das war ein schwerer Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen.
Doch das war noch gar nicht alles: 1985, also drei Jahre zuvor, hatten Sikh-Terroristen eine Boeing 747-200 von Air India in die Luft gesprengt, alle 329 Menschen an Bord des Jumbos kamen ums Leben. Während des Verhörs stellte sich allerdings rasch heraus, dass Basuta unschuldig war und ihm das Trinkgelage mit seiner Verwandtschaft letzten Endes das Leben gerettet hatte. Doch davon wussten wiederum seine Frau Surinder und die anderen Verwandten in den USA nichts.
«Der glücklichste Moment meines Lebens»
Sie hatten in den Nachrichten von dem Absturz gehört und glaubten nun natürlich, dass Jaswant Basuta ebenfalls unter den Todesopfern sei. Ein Polizist rief auf Drängen von Basuta bei dessen Familie in Amerika an, doch noch bevor der Beamte den Sachverhalt erklären konnte, schluchzte Surinder Basuta aufgelöst ins Telefon: «Ja, ich habe es im Fernsehen gesehen. Das Flugzeug meines Mannes ist abgestürzt!»
Der Ordnungshüter erklärte der Frau daraufhin, dass ihr Mann am Leben war und neben ihm saß. Es dauerte einige Momente, bis Surinder am anderen Ende der Leitung verstand, was das bedeutete. Surinder und Jaswant brachen beide in Tränen aus. «Das war der glücklichste Moment meines Lebens», erzählte der Überlebend“ 20 Jahre später in einem Interview.
Dann ein Bild seines Koffers
Und dieses Ereignis sollte sein Leben für immer verändern: «Ich fragte mich, warum Gott Erbarmen mit mir hatte und mich gerettet hat. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal besonders religiös aber Gott hat mir eine zweite Chance gegeben. Ich betrachte es als meine Pflicht, dieses Geschenk zu erwidern, indem ich anderen Menschen helfe und genau das versuche ich zu tun.»
Monate nach dem Absturz legten ihm FBI-Beamte dann plötzlich ein Foto eines teilweise verbrannten Koffers vor, von dem sie glaubten, dass er Basuta gehörte: «Sie fragten mich dann, ob ich ihn zurückhaben wolle. Aber was sollte ich damit machen? Ich habe mein Leben und meine Familie, was brauche ich mehr?»
Der Artikel ist ein Vorabdruck aus dem Buch «Pan Am Flug 103: Die Tragödie von Lockerbie ‒ Weihnachtsreise in den Tod» von Patrick Huber. Das Sachbuch zeichnet Flug PA103 minutiös nach und beleuchtet Biografien von Crewmitgliedern, Passagieren sowie Einwohnern von Lockerbie bis ins kleinste Detail. Außerdem richtet der Autor den Fokus auf die Ermittlungen der Unfallsachverständigen, die Arbeit der Justiz und auf jene Menschen, die den Flug nicht antraten oder durch einen glücklichen Zufall verpassten. Auch die technischen Aspekte des Unglücks werden ausführlich behandelt.. Das Werk ist ab sofort im Handel erhältlich.