Interview mit Christian Scherer
«ATR könnte der Fuchs im Hühnerstall sein»
Christian Scherer ist neuer Chef des Turbopropherstellers ATR. Im Interview spricht er über den Erfolg im Iran, Protektionismus in China und darüber, wann ATR ein neues, größeres Modell lancieren wird.
Christian Scherer: «Auf unsere Profitabilität ist wohl fast jeder andere Flugzeugbauer der Welt eifersüchtig»
Christian Scherer: «Auf unsere Profitabilität ist wohl fast jeder andere Flugzeugbauer der Welt eifersüchtig»
Der Deal mit Iran Air ist unter Dach und Fach. Zufrieden?
Christian Scherer*: Natürlich! Es gibt keine einfachen Deals, aber dieser war ganz besonders herausfordernd in Bezug auf Behörden, Finanzierung und Lieferdaten. Wir treten nun in einen Markt ein, der in eine neue Ära aufbricht. Unsere Flugzeuge werden eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der iranischen Wirtschaft und der Verbesserung der Verbindungen zwischen den Menschen im Land spielen. Wir freuen uns riesig bei dieser historischen Entwicklung dabei zu sein.
Sie stehen nun seit sechs Monaten an der Spitze von ATR. Was hat Sie am meisten überrascht?
Nach einer langen Karriere bei Airbus lerne ich jetzt die Kunden von ATR und die Eigenheiten des Regionalmarktes kennen. Die Betreiber haben kleinere Flotten und agieren oft in herausfordernden Bedingungen und in abgelegenen Gebieten mit einer beschränkten Infrastruktur. Sie sind auch anfälliger auf Veränderungen am Markt als andere Fluggesellschaften. Trotzdem setzten mehr als 200 Airlines in über 100 Ländern auf unsere Produkte – das sind weit mehr als jeder Konkurrent. Wir besitzen einen Marktanteil von 80 Prozent. Ich habe mich nun eingearbeitet und freue mich, mit einem Team zusammenarbeiten zu können, das sehr engagiert ist.
Das vergangene Jahr war in Sachen Umsatz und Gewinn nicht das beste, warum?
Die Verkäufe waren nun viele Jahre überaus stark. Vergangenes Jahr waren sie aus diversen Gründen etwas schwächer. Zum einen ist der Markt wegen politischer und wirtschaftlicher Unsicherheiten rückläufig. Einige unserer Kunden in Schlüsselmärkten wie Brasilien und Indonesien wurden zudem von der starken Abwertung ihrer Landeswährung gegenüber dem Dollar getroffen. Das verteuert ja neue Flugzeuge, die in Dollar bezahlt werden. Deshalb wurden Bestellungen vertagt oder statt neuen gebrauchte Flieger gekauft. Es ist sehr verlockend für Fluggesellschaften, die billigere Variante zu wählen. Aber langfristig zahlt sich das nicht aus.
Gab es noch andere Gründe?
Ja. Das Ganze wurde verstärkt durch die relativ tiefen Treibstoffpreise. Dadurch verringern sich die wirtschaftlichen Vorteile von Turboprops. Kommt hinzu, dass es auf dem Leasingmarkt seit einigen Jahren ein spekulatives Überangebot gibt, das ebenfalls eine Rolle gespielt haben könnte. Nicht zuletzt ist der Pilotenmangel zu erwähnen. Nichtsdestotrotz waren wir profitabel. Wir konnten auch 36 Orders verzeichnen – mehr als jeder andere Konkurrent. Ich mache mir wirklich keine Sorgen. Unser Geschäft ist stark und steckt einen zyklischen Rückgang locker weg.
Einige unserer Kunden in Schlüsselmärkten wurden von der starken Abwertung ihrer Landeswährung getroffen.
Wie hat 2017 begonnen?
So weit, so gut. Das Umfeld ist hart, aber mit der Stabilisierung der Produktionsrate bei 80 Fliegern pro Jahr hat ATR die Reiseflughöhe erreicht. Wir haben einen Auftragsbestand von fast 200 Flugzeugen und damit für fast drei Jahre. Zudem haben wir in den ersten Monaten bereits Erfolge erzielt. Wir konnten 20 Flugzeuge an Iran Air verkaufen und Japan Airlines hat ihre Order um ein Flugzeug aufgestockt, noch bevor sie die erste Maschine übernommen hatte. Ich mache mir also wirklich keine Sorgen. Es gibt schwächere Jahre, das is so. Aber auf unsere Profitabilität ist wohl fast jeder andere Flugzeugbauer der Welt eifersüchtig.
ATR profitiert als eine der wenigen Akteure in der Luftfahrt von steigenden Treibstoffpreisen. Sie müssen also auch darum sehr zuversichtlich sein…
Wir waren 2016 auch mit tiefen Treibstoffpreisen Nummer eins im Markt. Wir haben das richtige Produkt für Regionalmärkte. So einfach ist es. Einige unserer Konkurrenten haben wir in die Ecke gedrängt, weil unsere Flieger wirtschaftlicher sind. Und weil wir das Reiseerlebnis an Bord eines Turboprops verbessert haben. Unsere Modelle ATR 42 und ATR 72 sind unschlagbar. Dennoch verfolgen wir die technische Entwicklung um unsere Produkte weiter zu verbessern und allenfalls auch neue Produkte zu lancieren. Ich will agieren, nicht reagieren.
In welchen Weltgegenden wollen Sie noch wachsen?
Die USA bleiben der härteste und technisch forderndste Markt in der Luftfahrt. Darum will ich dort präsent sein. Es gibt keinen Grund, weshalb das beste Regionalflugzeug dort nicht öfter im Einsatz sein sollte. Wenn man sich ansieht, wie viele regionale Strecken in den USA noch mit ineffizienten Jets bedient werden und dass 400 Regionalrouten in den vergangenen zehn Jahren stillgelegt wurden, dann sieht man das Potenzial. China und Indien sind bevölkerungsreich und daher auch sehr interessant. In China führt Protektionismus durch die Regierung dazu, dass dort noch keine ATR verkehren. Doch ich bin zuversichtlich, dass unsere Gespräche mit potenziellen Kunden und Politik schon bald Resultate zeigen werden. Es gibt einen Bedarf in der Volksrepublik für 300 neue Turboprops. In Indien ist der Plan der Regierung interessant, die Anbindung der Regionen zu verbessern. Aber auch Japan, Südostasien, Lateinamerika, Afrika und Nordeuropa sind in Sachen Neu- und Ersatzbedarf spannend.
Es gibt einen Trend hin zu größeren Flugzeugen. So können Airlines die Kosten pro Sitz verringern. Die ATR 72-600 ist ihr größtes Modell mit 78 Plätzen. Ein Nachteil?
Einige unserer Kunden wünschen sich in der Tat eine größere ATR. Es gibt also einen Markt dafür. Ich denke wir könnten der Fuchs im Hühnerstall sein, wenn wir mit Turboprops in den Markt für 90 bis 100 Plätze eindringen, der jetzt von Jets dominiert wird. Die Frage ist nicht ob es eine größere ATR geben wird, sondern wann. Der Erfolg in den vergangenen Jahren hat uns in eine neue Dimension gehoben. Wir müssen mit mehr Auslieferungen, mehr Kunden und höheren Qualitätsstandards und Servicestandards umgehen. Wir müssen dies nun konsolidieren bevor wir einen so großen Schritt wagen. Es gibt keine Eile. Es gibt kein Produkt, das uns da momentan gefährlich werden könnte.
Es gibt keine Eile. Es gibt kein Produkt, das uns da momentan gefährlich werden könnte.
Aber ihr Konkurrent Bombardier hat einen 90-Sitzer im Angebot.
Und wie viele davon hat er schon verkauft? Keinen einzigen! Ich bin wie gesagt überzeugt, dass es einen Markt für größere Turboprops gibt. Mehr Passagiere in die aktuelle Kabine zu quetschen wie Bombardier bei der Dash 8 Q400 kann aber nicht die Lösung sein. Wenn wir ein größeres Modell lancieren, werden wir dafür sorgen, dass Passagiere auch noch Handgepäck mitführen können und ihre Beine nach der Landung noch spüren.
Und gibt es noch Möglichkeiten, mehr Leute in die bestehenden Modelle zu bringen?
Wir haben ja die ATR 72-600 High Capacity für 78 Reisende präsentiert, um auf die Nachfrage nach höherer Kapazität und damit tieferen Kosten pro Sitzplatz zu reagieren. Darüber hinaus mit dünneren Sitzen und Anpassungen bei den Gepäckfächern oder der Bordküche nochmals eine Reihe in das Flugzeug zu bringen, wäre technisch ebenfalls machbar. Aber für uns ist das nicht vordringlich, weil wir die Nachfrage für so etwas nicht sehen. Wir wollen nicht denselben Fehler machen wie Bombardier. Wir werden an dem Tag ein Flugzeug mit mehr Plätzen präsentieren, an dem wir ein komplett neues Flugzeug präsentieren.
Es gab aber innerhalb von ATR Kreise, die schon vehement ein größeres Modell forderten.
Um ein größeres Flugzeug zu entwickeln, müssen wir zuerst unsere Aktionäre überzeugen. Auf der einen Seite ist man dort absolut bereit, das Projekt zu unterstützen während man auf der anderen Seite auch rationales wirtschaftliches Urteilsvermögen anwendet und sieht, dass es ATR sehr gut geht und darum keine Eile besteht. Wir produzieren jetzt so viele Flieger wie möglich. Wir sind der einzige Hersteller mit einem 50-sitzigen und einem 75-sitzigen Flugzeug. Das Leben ist also schön.
Was sind die größten Hindernisse wenn Sie das Risiko eingehen würden?
Einige technische Details müssten zuerst eingehend geprüft werden. Das größte Hindernis ist aber die Gegenfrage: «Warum jetzt, wenn wir nicht müssen?» Die ATR 72 ist so effizient, es ist mit der aktuell verfügbaren Technik schwierig, ein besseres Produkt zu entwickeln.
Zwischen 100 und 450 Meilen können Jets nicht mit unseren Flugzeugen mithalten.
Wenn momentan kein größeres Flugzeug, gäbe es denn andere denkbare Ergänzungen für die Produktepalette?
Wir möchten unsere Kosten weiter drücken. Es gibt verschiedene Innovationen für die Modelle, die wir anbieten könnten. So gibt es eine mögliche Anpassung für die ATR 42, damit sie auf kürzeren Pisten eingesetzt werden kann. Wenn ein Kunde das wünscht würde ich zu unseren Aktionären gehen und von ihnen das Okay für diese Entwicklung einholen. Mit leichteren, stärkeren Karbonbremsen und einer möglichen Anpassung am Seitenruder könnten wir die Manövrierbarkeit verbessern, was wiederum neue Ziele eröffnen würde. Daneben will ich ganz allgemein die Kundenzufriedenheit weiter verbessern.
Aber es gibt neue Konkurrenz durch die sehr effizienten Jets der Embraer E2-Series, die Bombardier C-Series oder den Sukhoi Superjet…
Ich sehe wirklich nichts, was mit unseren Produkten konkurrieren könnte. Die ATR 42 und 72 sind auf kurzen Routen mit kleinerer Nachfrage unschlagbar. Und sie sind in Bezug auf Lärmemissionen und Vibrationen im Vergleich zu fast allen Regionaljets überlegen. Zwischen 100 und 450 Meilen können Jets nicht mit unseren Flugzeugen mithalten. Ihr einziger Vorteil ist, dass sie schneller sind und länger fliegen können. Die Bombardier Dash 8 Q400 ist der direkteste Konkurrent, aber sie ist auf längere Flüge ausgelegt.
Es war einmal zu hören, dass einer ihrer Aktionäre aussteigen will. Bleiben Airbus und Leonardo beide an Bord und bleibt es bei der 50:50-Aufteilung?
Ich arbeite für ATR, das müssten Sie Airbus und Leonardo fragen. Ich versetze mich jetzt aber mal in die Schuhe der zwei Aktionäre: ATR ist fit, ein tolles Unternehmen und zahlt Dividenden. Ich sehe also in der kurzen Frist keine Schachzüge, die unser Spiel fundamental verändern sollten.
* Christian Scherer (55) ist seit dem 1. November 2016 Vorstandsvorsitzender von ATR. Er stammt aus Duisburg und studierte Marketing an der University of Ottawa und an der Paris Business School. Seine Berufskarriere startete er bei Airbus wo er nach und nach aufstieg und verschiedene Positionen innehatte. Zuletzt war er Chef Marketing und Verkauf von Airbus Defence and Space.