Germanwings-Unglücksflug 4U9525
«Störung mit paranoiden Zügen»
[image1]Wie kann ein Pilot 150 Passagiere bewusst töten? Was sind seine Motive? Könnte man so etwas vorher erkennen? Suizidexperte Manfred Wolfersdorf im Interview.
Jet von Germanwings: «Es gibt keine Berufsgruppe, die nicht krank sein kann».
Jet von Germanwings: «Es gibt keine Berufsgruppe, die nicht krank sein kann».
Noch sind nicht alle Fakten zum Absturz des Airbus A320 von Germanwings in den französischen Alpen geklärt. Die These eines erweiterten Selbstmordes des Kopiloten von Flug 4U9525 steht aber heute im Vordergrund. Sie gilt momentan als wahrscheinlichste Erklärung für das schreckliche Ereignis. Im Interview mit aeroTELEGRAPH erklärt der renommierte deutsche Suizidexperte Manfred Wolfersdorf, wie ein Täter so etwas tun kann.
Für viele Beobachter ist es unvorstellbar, dass ein Selbstmörder 150 Menschen mit in den Tod reißt. Wie häufig ist so eine Tat?
Manfred Wolfersdorf*: Klassische Mitnahmesuizide – etwa wenn eine Mutter aus pseudoaltruistischen Motiven ihr Kind mit in den Tod nimmt – gibt es ab und zu. Der Anteil an allen Suiziden liegt aber unter ein Prozent. Ein derartiger erweiterter Suizid wie nun des Kopiloten, wo man eine große Anzahl Menschen mit tötet, ist extrem selten.
Was können die Motive eines solchen Täters sein?
Ich glaube nicht, dass der Kopilot in einem Depressionsmodus gehandelt hat. Der Depressive bringt sich lieber alleine um. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung waren beim Germanwings-Kopiloten nicht der Anstoß. Suizid hat aber immer auch ein aggressives Element – Aggressivität gegen sich selbst und andere. Dieses Element wird hier vorherrschend gewesen sein. Es geht um Begriffe wie Machtausübung, Kränkung.
Dann ist der Absturz von Flug 4U9525 eher ein Amoklauf als ein Suizid?
Nein. Bei einem Amok hat der Täter eine Beziehung zu den Opfern, etwa zu den Mitschülern oder Lehrern. Der Täter will töten um sich dann auch zu töten. Hier aber hatte der Kopilot keinerlei Beziehung zu den Opfern. Er handelte wie ein Geisterfahrer, der absichtlich falsch auf die Autobahn fährt und in irgendein zufälliges Auto kracht – egal wer dort drin sitzt.
Sie sagen, der Kopilot handelte nicht aus einer Depression heraus. Hatte er denn eine Persönlichkeitsstörung?
Ja, das kommt aus einer Persönlichkeitsstörung, die paranoide Züge hat. Es ist eine Störung im Sinne von «Die ganze Welt mag mich nicht. Alle sind gegen mich». Der Kopilot hat sich zudem selbst als Flying A. bezeichnet. Das klingt etwas nach Superheld. Es kommen auch narzisstische Züge hinzu. Er hat sich mit einem Fanal verabschiedet – man wird auch noch nach 30 Jahren darüber reden.
Ist so etwas eine Kurzschlusshandlung oder spielen solche Täter Ihre Tat im Voraus durch?
Das ist nur theoretisch zu beantworten. Üblicherweise hat man bei suizidalen Handlungen einen längeren Vorlauf – Monate, ja Jahre. In dieser Zeit setzt sich jemand mit der Frage auseinander, dass er sich ja auch umbringen könnte. Wenn der Entscheid es zu tun gefallen ist, dann geht es dagegen schnell. Studien zeigen: Bei 90 Prozent der Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen, fiel der Entscheid innerhalb von 24 Stunden.
Der Kopilot liebte seinen Beruf. Wie kann es sein, dass so jemand den eigenen Berufsstand diskreditiert?
Es ist ein Mythos, dass Piloten besonders gesund seien. Es gibt keine Berufsgruppe, die nicht krank sein kann. Auch ein Pilot kann psychisch erkranken. Alles andere wäre Selbstüberschätzung.
Die Aufzeichnungen aus dem Cockpit zeigen, dass der Kopilot bis zum Crash völlig ruhig war. Ist das bei Selbstmördern üblich?
Ja. In solchen Situationen treten Menschen quasi aus sich. Sie warten einfach darauf, bis das Ereignis eintritt. Die Leute überkommt eine gewisse innere Ruhe als hätten sie schon von der Welt Abschied genommen. In solchen Zuständen ist man auch nicht mehr erreichbar.
Gibt es bei stark suizidalen Menschen Erkennungsmerkmale, die man von außen wahrnehmen könnte?
Die Depression ist die häufigste Erkrankung, die zu Suizid führt. Wenn man gezielt und direkt danach fragt, kann man das erkennen. Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, frühere suizidale Krisen – so etwas kann man aufspüren. Man kann Suizidalität nicht in einen Menschen hineinreden.
Das heißt, man kann solche Fälle mit Tests verhindern?
Tests sind generell Okay. Aber Menschen können Sie fälschen. Auch der Kopilot verleugnete ja seine Krankheit. In einem intensiven Gespräch dagegen kann der Psychiater nachfragen, tiefer bohren. Da lassen sich solche Tendenzen erkennen.
Könnte man solche Taten also künftig verhindern?
Verhindern wohl nicht. Aber man könnte die Erkennungsrate erhöhen.
[image2]* Prof. Dr. med. Dr. h.c. Manfred Wolfersdorf ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirkskrankenhaus Bayreuth und renommierter Suizidexperte.